70 %-Grenze

Leitsatz:

Lässt der Geschädigte sein unfallbeschädigtes Fahrzeug nicht reparieren, sondern realisiert er durch dessen Veräußerung den Restwert, ist sein Schaden in entsprechender Höhe ausgeglichen. Deshalb wird auch bei Abrechnung nach den fiktiven Reparaturkosten in solchen Fällen der Schadensersatzanspruch durch den Wiederbeschaffungsaufwand begrenzt, so dass für die Anwendung einer sog. 70 %-Grenze kein Raum ist.

Aus den Gründen:

… 1. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt Senatsurteile BGHZ 154, 395 und vom 15. Februar 2005 – VI ZR 70/04 – VersR 2005, 1108 und – VI ZR 172/04 – VersR 2005, 665, jeweils m.w.N.) stehen dem Geschädigten im allgemeinen zwei Wege der Naturalrestitution zur Verfügung: Die Reparatur des Unfallfahrzeugs oder die Anschaffung eines „gleichwertigen“ Ersatzfahrzeugs. Unter den zum Schadensausgleich führenden Möglichkeiten der Naturalrestitution hat der Geschädigte dabei jedoch grundsätzlich diejenige zu wählen, die den geringsten Aufwand erfordert. Dieses sogenannte Wirtschaftlichkeitspostulat findet gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB seinen gesetzlichen Niederschlag in dem Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit, ergibt sich aber letztlich schon aus dem Begriff des Schadens selbst. Darüber hinaus findet das Wahlrecht des Geschädigten seine Schranke an dem Verbot, sich durch Schadensersatz zu bereichern. Denn auch wenn er vollen Ersatz verlangen kann, soll der Geschädigte an dem Schadensfall nicht „verdienen“. Durch das

Wirtschaftlichkeitsgebot und das Bereicherungsverbot darf allerdings sein Integritätsinteresse, das aufgrund der gesetzlich gebotenen Naturalrestitution Vorrang genießt, nicht verkürzt werden. Deshalb hat der Senat in seinem Urteil vom 29. April 2003 – VI ZR 393/02 – aaO entschieden, daß der Geschädigte zum Ausgleich des durch einen Unfall verursachten Fahrzeugschadens die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts ohne Abzug des Restwerts verlangen kann, wenn er das Fahrzeug tatsächlich reparieren läßt und weiter benutzt. In einem solchen Fall stellt nämlich der Restwert lediglich einen hypothetischen Rechnungsposten dar, den der Geschädigte nicht realisiert und der sich daher in der Schadensbilanz nicht niederschlagen darf.

  1. Demgegenüber hat im Streitfall nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts der Kläger das unfallbeschädigte Fahrzeug nicht weiter benutzt, sondern es in unrepariertem Zustand weiter- veräußert und ein entsprechendes Neufahrzeug erworben. Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler den ersatzfähigen Schaden des Klägers durch den Wiederbeschaffungsaufwand begrenzt. Dies ergibt sich nicht nur aus den neueren Senatsurteilen vom 7. Dezember 2004 – VI ZR 119/04 – (VersR 2005, 381, 382), 15. Februar 2005 – VI ZR 70/04 – und – VI ZR 172/04 – (jeweils aaO) und vom 1. März 2005 – VI ZR 91/04 – (zur Veröffentlichung bestimmt), sondern entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des Senats. Zwar ist der Geschädigte nach dem Senatsurteil BGHZ 66, 239, 244 nicht gehindert, auch dann nach den fiktiven Reparaturkosten abzurechnen, wenn er tatsächlich nicht repariert, sondern das Fahrzeug unrepariert veräußert. In einen solchen Fall ist sein Anspruch jedoch der Höhe nach durch die Kosten der Ersatzbeschaffung begrenzt (vgl. Senatsurteile BGHZ 66, 239, 247 und vom 5. März 1985 – VI ZR 204/83 – VersR 1985, 593). Auch wenn es den Schädiger grundsätzlich nichts angeht, wie der Geschädigte mit dem unfallbeschädigten Kfz verfährt (BGHZ 66, 239, 246), ändert dies nichts daran, daß zunächst ein- mal nach sachgerechten Kriterien festzustellen ist, in welcher Höhe dem Geschädigten angesichts des ihm verbliebenen Restwerts seines Fahrzeugs durch den Unfall überhaupt ein Vermögensnachteil erwachsen ist (Senatsurteil vom 21. Januar 1992 – VI ZR 142/91 – VersR 1992, 457). Dadurch wird verhindert, daß sich der Geschädigte an dem Schadensfall bereichert (vgl. Senatsurteile BGHZ 154, 395, 398; vom 7. Dezember 2004 – VI ZR 119/04 – und vom 15. Februar 2005 – VI ZR 70/04 – und – VI ZR 172/04 – jeweils aaO). Mit Recht hat das Berufungsgericht deshalb im Streitfall den Restwert in Abzug gebracht und damit der Sache nach den Schadensersatzanspruch des Klägers auf den Wiederbeschaffungsaufwand beschränkt.
  2. Entgegen der Auffassung der Revision ist es insoweit ohne Bedeutung, daß die vom Sachverständigen ermittelten Reparaturkosten die „70 % – Grenze“ des Wiederbeschaffungswerts nicht überschreiten und der Sachverständige wohl deshalb in seinem Gutachten keinen Restwert ausgewiesen hat.

Eine solche Vorgehensweise wurde zwar vom Deutschen Verkehrsgerichtstag im Jahre 1990 und erneut im Jahre 2002 empfohlen (vgl. VersR 1990, 362, 363; 2002, 414, 416). Sie wird in Rechtsprechung und Literatur vielfach befürwortet (vgl. z.B. LG Osnabrück, DAR 1993, 265, 266; AG

Sigmaringen, MDR 2000, 1430; AG Nordhorn, DAR 2000, 413; vgl. hierzu auch Huber, Das neue Schadensersatzrecht, 2003 § 1 Rn. 120; ders., MDR 2003, 1334, 1339 f.; Lemcke, r + s 2002, 265, 270; ders. in: v. Bühren, Anwaltshandbuch Verkehrs-recht, 2003, Teil 2 Rn. 151 f.; Pamer, NZV 2000, 490 f.; Steffen, DAR 1997, 297, 301; DAR 2002, 6, 9; Geigel/Rixecker, Der Haftpflichtprozeß, 24. Aufl., 2004, 3. Kap. Rn. 36). Damit soll insbesondere der Lage eines Geschädigten Rechnung getragen werden, dessen vergleichsweise neues hochwertiges Kraftfahrzeug einen „mittleren“ Reparaturschaden erleidet, weil in einem solchen Fall der Reparaturaufwand recht schnell höher sein kann als der Wiederbeschaffungsaufwand, obwohl eine Reparatur auf den ersten Blick lohnend erscheint (vgl. Geigel/Rixecker, aaO). Das kann sich jedoch nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nur dann zugunsten des Geschädigten auswirken, wenn dieser das Fahrzeug tatsächlich reparieren läßt und weiter nutzt. In diesem Fall kann er zum Ausgleich des durch den Unfall verursachten Fahrzeugschadens die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts ohne Abzug des Restwerts verlangen, wobei die Qualität der Reparatur jedenfalls solange keine Rolle spielt, als die geschätzten Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen (vgl. Senatsurteile BGHZ 154, 395, 398 und 15. Februar 2005 – VI ZR 70/04 – und – VI ZR 172/04 – jeweils aaO). Läßt er dagegen das Fahrzeug nicht reparieren, sondern realisiert er dessen Restwert, liegt nach den vorstehenden Darlegungen zu Ziffer 2. auf der Hand, daß sein Schaden in Höhe des Restwerts ausgeglichen und deshalb dessen Berücksichtigung geboten ist. Bei dieser Sachlage ist für die Anwendung der sog. 70 % -Grenze jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art kein Raum.

  1. Der vorliegende Fall nötigt den Senat – entgegen der Auffassung der Revision – schließlich nicht zu Ausführungen zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich der Geschädigte auf ein ihm übermitteltes Angebot eines Restwertaufkäufers einlassen muß (vgl. hierzu Senatsurteil BGHZ 143, 189). Denn in dem entsprechenden Vorbringen der Beklagten lag die konkludente Behauptung, daß der für das unfallbeschädigte Fahrzeug gebotene Kaufpreis zu erzielen war und mithin auch bei der vom Kläger vorgenommenen Veräußerung mindestens erzielt worden ist. Da sich der Kläger hierzu ausgeschwiegen hat, gilt die entsprechende Behauptung der Beklagten nach § 138 Abs. 3 und 4 ZPO als zugestanden (vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 2004 – VI ZR 119/04 – VersR 2005, 381). …

(Auszüge aus dem o.a. Urteil des BGH)

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